I   Erfahrungen und Beschreibungen

Wie beschreibe ich einen Kuß?

Wie erzähle ich von einem Kuß?

Von einem zweiten, ganz anderen. Und von einem dritten.

Wer „Kuß“ liest, hat sofort ein Bild im Kopf. Die einen erinnern sich an ihren letzten Kuß, andere denken an eine Filmszene, wieder andere an einen erträumten Kuß, von dem sie sich wünschen, daß es ihn gäbe. Wie erfahren sie durch Worte etwas über einen Kuß, von dem sie vorher nichts wußten? Dessen Existenz sie vorher noch nicht einmal geahnt haben. Lesen heißt erfahren. Aber Schreiben heißt nicht, jene Erfahrung für Lesende herzustellen. Schreiben kann Zugang zu einer Erfahrung verschaffen, aber das ist nicht der Zweck – denn dann gäbe es kein Schreiben ohne Lesende. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß der Schreibprozeß genauso wichtig ist wie die Veröffentlichung des Geschriebenen, vielleicht sogar wichtiger. Wenn es überhaupt eine Antwort auf die Sinnfrage geben kann, dann liegt sie im Schreiben, nicht im Veröffentlichen. Und zwar deshalb, weil es, im Sinne von Camus, für den absurden Menschen nicht mehr um Erklärungen und Lösungen geht, „sondern um Erfahrungen und Beschreibungen“. Camus entwickelt diesen Gedanken in seinem berühmten Essay „Der Mythos des Sisyphos“, den er mit der Frage beginnt, ob sich das Leben lohne oder nicht. Der erste Satz lautet: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Die Dringlichkeit des Textes läßt für mich keinen Zweifel daran, daß die Frage für Camus offen, das Problem noch nicht gelöst war, als er mit der Arbeit an seinem Essay begann, und daß es für ihn keineswegs klar war, ob er dessen Vollendung überleben würde, denn: „wenn es wahr ist, daß (…) ein Philosoph, der ernst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müsse, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihr dann die endgültige Tat folgen muß“. Diese Radikalität fordert das Schreiben ein. Schreiben heißt, sich völlig offen in einen Prozeß der Veränderung ins Unbekannte zu begeben. Wenn der Text am Ende irgendeine Konsequenz haben soll, muß das zuallererst für die Person gelten, die ihn verfaßt. Insofern bin nicht nur ich es, der einen Text schreibt. Auch umgekehrt gilt: Der Text schreibt mich. Die Verwandlungskraft des Textes spiegelt sich in der Wandelbarkeit des Schreibenden. Aus diesem Grund wohnt dem Schreiben etwas Anarchistisches, Unberechenbares inne. Ich weiß nie, was der Schreibprozeß mit mir macht und wer ich sein werde, wenn ich einen Roman abgeschlossen habe.

(…)

Der vollständige Text findet sich in Sinn und Form, Heft 6/2021