Plädoyer gegen eine Ökonomie des Gedenkens

 

Im November 2011 wurde durch eine Explosion schlagartig bekannt, dass eine Nazi-Terrororganisation, der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU), zehn Jahre lang in der gesamten Bundesrepublik Migranten oder deren Nach- kommen gemordet hatte. Für die meisten war dies – aus unterschiedlichen Gründen – ein Schock. Die unterschiedlichen Gründe für den Schock erzeugten einen Bedarf an unterschiedlichen Formen des Gedenkens, die sich zum Teil widersprechen oder gar gegenseitig ausschließen.

Immer gab es etwas einzuwenden gegen die eine oder andere Form des Gedenkens. Beim Schweigen gegen das Schweigen sagten einige: «Reden, nicht schweigen, es wurde lang genug geschwiegen», ein Auto-Korso sei nicht adäquat, Petition: Uneinigkeit über «bestimmte Punkte». Das Bedürfnis, etwas zu tun, blieb unbefriedigt, obwohl so viel getan wurde. Alle hatten recht mit ihren Einwänden: Es gibt kein richtiges Gedenken im falschen Diskurs.

Angemessenes Gedenken ist erst möglich, wenn sich Trauer nicht mit einem Kampf um einen Ort in dieser Gesellschaft, um eine Aneignung von Geschichte, um eine Aushandlung des Diskurses vermischt. Oder positiv ausgedrückt: wenn Trauer für sich steht, keine Legitimation braucht und immun gegen jede Instrumentalisierung ist. Dann kann eine emotionale Enteignung der Trauer durch den politischen Diskurs wieder rückgängig gemacht werden.

 

Trauer als politischer Raum

 

Halit Yozgat, Enver Şimşek, Abdurrahim Ozudoğru, Süleyman Taşkopru, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubaşık: Die Opfer können nicht mehr sprechen. Sie können nicht anklagen. Sie können nicht vergeben. Genau diese Tatsache macht das Gedenken notwendig und scheinbar unmöglich zugleich. Jede Rede, jede Beileidsbekundung läuft aufgrund der Mittelbarkeit der Erfahrung Gefahr, ein Ort der Projektion eigener Vorstellungen zu sein oder für politische Interessen instrumentalisiert zu werden. Ein Gedenken, das ein Denken an die Getöteten sein will und nicht bei den Mördern und der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, verweilt, stellt sich als schwierig dar.

Dass dies dennoch gelingen kann, demonstrierte Semiya Şimşek, die Tochter des ermordeten Enver Şimşek, in ihrer Rede bei der staatlichen Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU am 23. Februar 2012 im Konzerthaus Berlin. Semiya Şimşek sprach nicht aus der Position einer Beileidsbekundung und nicht auf Basis von nur mittelbar Erfahrenem, sondern aus einer Position der »emotionalen Trauer« und des Verlusts eines geliebten, eines notwendigen Menschen. Zuhörer waren offizielle Repräsentantinnen der Gesellschaft, wie die Bundeskanzlerin, und über Fernsehen und Internet auch Angehörige von Minderheiten. Es herrschte eine Sprechsituation, in der Şimşeks Stimme hörbar wurde. Ihre Rede ließ keine Instrumentalisierung zu – sie war politisch in einem »menschlichen« Sinne.

Die Bezeichnung »emotionale Trauer« – die hier von Judith Butler übernommen wurde – mag irritieren, stellt sie doch einen Pleonasmus dar, weil Trauer bereits Emotionalität einschließt. Da jedoch Trauer als Affekt im öffentlichen Diskurs und in einer Ökonomie des Gedenkens faktisch so sehr instrumentalisiert wird, dass eine Trauerenteignung stattfindet, ist es sinnvoll und notwendig, ihr eigens den Begriff der »emotionalen Trauer« entgegenzustellen. Durch Semiya Şimşeks Rede wurde diese Trauerenteignung unterlaufen: Ihre Rede durfte ein Gedenken sein, das diejenigen, die selbst Opfer dieses Terrors waren bzw. es potenziell sind, stärkt und die anderen in ihrem Menschlichkeitsbezug irritiert. Ein Gedenken, in dem sich Trauer entfalten darf und politisch wird, nicht weil sie einer Agenda folgt, sondern aufgrund ihrer bloßen Existenz. Es ist eine wichtige Frage, wie gesellschaftliche Konstellationen so verändert werden können, dass »emotionale Trauer« einen politischen Raum öffnet und nicht umgekehrt Symbolpolitik Trauer missbraucht.

 

DIE STIMME DER ANDEREN

 

Dem Berliner Tagesspiegel war zu entnehmen, dass der Vater des Mordopfers Halit Yozgat auf der staatlichen Gedenkveranstaltung zunächst nicht sprechen sollte. Erst nachdem İsmail Yozgat gedroht habe, so der Tagesspiegel, dennoch das Wort an sich zu reißen, und dank der Vermittlung von Barbara John, der Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, habe er seine Rede doch noch halten dürfen. (Tagesspiegel, 24.2.2012)

Dass die Rede des Vaters nicht vorgesehen war, ließe sich von der Seite der Organisatoren sicherlich vielfach begründen. Und zwar ganz unverdächtig, weil formal. Formale Grunde aber können eine Methode sein, die Stimme der Anderen zum Schweigen zu bringen. Eine ebenso effiziente wie hypokritische Methode. Effizient, weil es scheinbar nur um das Wie geht und nicht um das Was. Hypokritisch, weil das Was über das Wie beschnitten wird, wenn es nicht sein darf.

Viele formale Gründe kann es geben, weshalb bei einer so großen, so medienwirksamen und als repräsentativ inszenierten Gelegenheit eine Rede nicht vorgesehen ist oder nicht zugelassen wird. Es wäre denkbar, dass sie nicht mehr in den Zeitplan passte, weil das aufwendige Programm bereits stand. Vielleicht war das Programm schon verschickt worden, die Deadline der Ankündigung war überschritten, oder eine Übersetzung war im Budget nicht vorgesehen. Oder das Verhältnis von Opferangehörigen und politischen Repräsentantinnen bzw. das Verhältnis zwischen Frauen und Männern auf der Bühne hätte dann nicht mehr gestimmt – es gibt viele plausible Gründe.

Hinter formalen Gründen liegt, wenn es um das Sprechen der Anderen geht, häufig ein allgemeines Muster. Einige Autoren und Wissenschaftlerinnen – erschüttert nach dem Auffliegen des NSU – begannen zu recherchieren und erste Aufsätze zu schreiben. Ihre Publikationen wiesen die Verantwortlichen von Zeitungen oder wissenschaftlichen Zeitschriften in aller Regel mit zwei Begründungen zurück: Erstens, das Thema »Rechtsextremismus« sei nicht quotentauglich, zweitens würden sie nicht »objektiv« sein können bei dieser Sache, weil sie selbst aus einem Migrationskontext stammten.

Umso bemerkenswerter ist, dass İsmail Yozgat seine Rede dennoch hielt. Nur wurde seine Stimme im Prozess des Übersetzens gezähmt. Die Autorin Mely Kiyak veröffentlichte in ihrer Kolumne in der Frankfurter Rundschau eine eigene Übersetzung der Rede und kommentierte die Übersetzung auf der Gedenkveranstaltung: »So steht nun überall, dass Familie Yozgat um ›seelischen Beistand‹ bittet. Herr Yozgat hat so etwas weder erwähnt noch verlangt. Beistand erfuhren sie in Kassel-Baunatal. Kassel-Baunatal und nicht, wie auch überall zu lesen ist, ›meine Heimatstadt Kassel-Baunatal‹; die Dolmetscherin meinte unbedingt hier und da hinzudichten zu müssen. Vielleicht hielt sie Herrn Yozgats Worte nicht für gehaltvoll genug. Er begrüßte auch keine ›Exzellenzen‹ und schon gar nicht ›vor allem unsere Bundeskanzlerin Frau Angela Merkel‹.«  (Frankfurter Rundschau, 25.2.2012) Die »nicht vorgesehene Rede« war »Lost in Translation«, ihr Inhalt veränderte sich, irritierte weniger, klang devot, wie es die Hierarchie verlangt, wenn ein türkeistämmiger Besitzer eines Internetcafés vor die Bundeskanzlerin tritt. Es gibt jedoch Risse in der Ordnung. Durch so einen Riss ist Yozgats Rede geschlüpft und in die Frankfurter Rundschau gelangt.

 

VOM »SORGFÄLTIGEN ABWÄGEN«

 

İsmail Yozgat hat sich trotz aller Hürden Gehör verschafft. Das hat viele Menschen gestärkt, weil durch seine Perspektive auch ihre Perspektive in den dominanten Diskurs Eingang gefunden hat, zumindest partiell. Und doch: Die Forderung von İsmail Yozgat blieb unerfüllt. Sein Sohn wurde in der Holländischen Straße 82 in Kassel in seinem Internetcafé erschossen. İsmail Yozgat hat sich den Weg ans Mikrofon, an die Hörbarkeit, freigekämpft und der Kanzlerin und der ganzen Nation gegenüber einen Wunsch ausgesprochen. Er hat gesagt, wir wollen kein Geld, wir wollen, dass die Holländische Straße umbenannt wird in Halit-Straße. Doch mit dieser Bitte stieß er in Kassel auf Widerstand: »Wie ein Ort des Andenkens aussehen kann und wo er sein wird, muss auf einer breiten gesellschaftlichen Basis beruhen« und muss »sorgfältig abgewogen« werden, zitierte die tageszeitung (taz) den Bürgermeister der Stadt Kassel, Jürgen Kaiser. İsmail Yozgat sagte der taz in diesem Zusammenhang: »Es ist eine Schande, dass noch darüber diskutiert wird, ob die Straße umbenannt werden sollte oder nicht. Hätten die Herrschaften weiter diskutiert, wenn ihr Sohn in dieser Straße in ihren Armen gestorben wäre?« (taz, 16.3.2012)

Niemand, der sich in die Trauer eines Vaters, der seinen Sohn verloren hat, und das auf diese Weise, hineinversetzt, wird an dieser Stelle »sorgfältig abwägen«. Doch weshalb, muss gefragt werden, können sich »die Herrschaften« nicht in die Lage versetzen? Nicht weil der Schmerz unvorstellbar ist, denn das hätte Achtsamkeit zur Folge. Die Lebenswelt des Ermordeten ist zu weit weg, überdeckt von Stigmata, unter denen der Mensch kaum noch kenntlich ist. Niemand wird leugnen, dass da ein Mensch getötet wurde. Aber weshalb ist Gewalt gegen manche Gruppen von Menschen weniger schlimm als gegen andere? Weil diese Personen weniger als Menschen wahrgenommen werden? Ist es nicht genau diese Entwertung, die İsmail Yozgat zu Recht so empörte? Was ist es genau, das hier »sorgfältig abgewogen« wird? Ist eine Holländische Straße zu gut für einen Halit?

Ein Richtungswechsel des Gedenkens

 

Öffentliche Veranstaltungen zum Gedenken an Opfer rassistischer Gewalt finden, wie geschildert, meist nicht aus der Perspektive der Opfer statt. Das Gedenken folgt selten einem intrinsischen Bedürfnis, sondern oftmals eher einem ökonomischen Kalkül, das entweder (makroökonomisch) auf die Aufwertung des (Wirtschafts-)Standorts und der nationalen Identität zielt oder (mikroökonomisch) individuelle Einzelnutzen der Mehrheitsgesellschaft (zum Schaden eines kollektiven Nutzens) maximiert. Dabei spiegelt sich häufig noch im Gedenken selbst die Wirkmächtigkeit eines bürokratischen Apparats, der in einem Zusammenhang mit der Gewalt steht, deren Opfern gedacht werden soll, und diese Gewalt unter Umständen sogar weiterführt.

Wenn die Gesellschaft, also die Bürgerinnen, sowie Politik und Verwaltung die Perspektive der Trauernden zulassen würden, könnte diese »emotionale Trauer« auch eine politische Ressource sein, weil sie die Bedeutung des Anderen für uns ausdrückt. Bei einem Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt stellt die »emotionale Trauer« das Menschliche ins Zentrum. So lässt sich das Gedenken nicht instrumentalisieren für eine bestimmte Maßnahme, eine unmittelbare politische Forderung oder für eine Imagekampagne des Staates. Und doch hat gerade dieses radikal menschliche Gedenken eine mächtige (und entmachtende) politische Dimension, weil sie aus »Exemplaren« wieder Individuen macht. Und weil sie fähig ist, die Entmenschlichung partiell rückgängig zu machen, die über Diskurs und Sozialisation bereits stattgefunden und so überhaupt erst ein rassistisches Morden ermöglicht hat. Jenseits eines »sorgfältigen Abwägens« kann ein Gedenken aus Trauer und politischem Zorn heraus in seiner Indiskutabilität und Unkorrumpierbarkeit die Reduzierung der Angegriffenen auf Exemplare einer Kategorie teilweise aufheben. So können sie – in memoriam – zurückgeführt werden zu ihrem Sein als Individuen, als Menschen.

 

 

Diese Kurzfassung des Aufsatzes erschien am 19.11.2013 in der Wochenzeitung Analyse&Kritik. Eine Langfassung des Textes erschien im November 2013 in der Reihe Standpunkte der Rosa Luxemburg Stiftung, online unter Standpunkte_13-2013.pdf.