In der Altstadt von Hanoi tropft auf einem Tischchen schwarzer Kaffee durch ein kleines Sieb in mein Glas. Ich sitze auf einem blauen Plastikhocker, lehne an einer Hausfassade und stelle mir vor, dass einer der Rollerfahrer, die aus allen Gassen strömen, in dem Flugzeug saß, mit dem im Juni 2009 hundert Vietnames*innen aus Berlin abgeschoben wurden.

Kaum jemand erinnert sich an diesen Flug. Womöglich nicht einmal die zuständigen Beamten, die diese Abschiebung veranlasst hatten. Nur die Abgeschobenen selbst werden ihn nicht vergessen haben. Wer von ihnen war noch zu jung, um sich erinnern zu können? Wer zu alt, um heute noch zu leben und davon zu wissen? Für die Jungen muss die Reise etwas Mythologisches bekommen haben: eine Verbannung in früher Zeit. Aus dem Land, in dem sie ihre Kindheit verbracht haben, in dem sie vielleicht sogar auf die Welt gekommen sind und mit dem sie nichts mehr verbindet, außer ein Städtename in ihren Pässen und die Erzählung von einem Tag, an dem nicht sie, nicht ihre Eltern, sondern äußere Gewalten darüber bestimmt haben, welche Sprache sie bald lernen, welche Freunde sie gewinnen würden. Jeder Mensch kommt an einem Ort auf die Welt. Für alles gibt es eine Regelung.

Auch wer auf einem Schiff oder in einem Flugzeug geboren wird, wird nach Ankunft in dieser Welt einem Ort zugeordnet. Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn dieser Name abstrakt bleiben muss, also nur ein Name und kein Ort, weil man selbst und die eigene Familie keinen Einfluss darauf hat, den Ort der Kindheit zu betreten. Ich weiß es nicht, denn ich habe Zutritt. Und ich habe gelernt, dass es ein großer Fehler ist, wenn diejenigen mit Zutrittsrechten ihre eigene Wahrnehmung und die eigenen Vorannahmen übertragen auf das Leben derjenigen ohne diese Rechte.

Ich habe das Recht, nach Hannover, in die Stadt meiner Geburt, zu fahren, wann immer mir danach ist, und dort so lange zu bleiben, wie ich es wünsche. Und sollte mir dieses Recht – aus welchen Gründen auch immer – irgendwann verwehrt werden, bin ich dennoch mit der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, dass das, was in meinem Pass steht, zu mir gehört: mein Name, meine Augenfarbe, meine Körpergröße, mein Geburtsort. Andere tragen für immer eine ungelebte Möglichkeit ihres Seins mit sich: zum Beispiel die Möglichkeit, ein Berliner Jugendlicher zu sein, zu dem das abgeschobene Kind nie werden konnte, der vielleicht in einer phantasierten Parallelwirklichkeit seinen Hang zum Schreiben entdeckt und Gedichte auf Deutsch bei Literaturzeitschriften einsendet. Die anderen, die immer schon Gesicherten, die unter keinen Umständen eine Abschiebung befürchten müssen, verlieren aber auch etwas. Die Abschiebung hat Auswirkungen auf alle. Nur für die, die bleiben dürfen, ist es nicht sofort kenntlich, bedarf es eines genaueren Hinschauens auf die eigenen Privilegien. (…)

Der vollständige Essay in „Wir Gestern Heute Hier. Texte zum Wandel unserer politischen Werte“, herausgegeben von Matthias Jügler, Piper Verlag, 2020

Ein Auszug erschien im Tagesspiegel vom 18. Oktober 2020