>> Von heute aus betrachtet sind die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Bundestagswahl im Herbst 2017 im Kontext einer weltweiten Anzweiflung der Autorität des besseren Arguments zentral für meine Einträge in dieses Logbuch gewesen.
Ein Themenstrang, der sich hieraus entwickelte, schloss Beobachtungen und Überlegungen zum Rassismus in Politik, Behörden und Gesellschaft ein: die Normalisierung rechtsextremer und verfassungsfeindlicher Positionen in Parlament und Gesellschaft; das Abrücken der Politik – wenigstens teilweise – von einer rationalen Programmatik hin zur Verwendung emotionaler Stimuli meist auf Kosten von Geflohenen. Ein anderer Themenstrang bezog sich auf eine Rhetorik der „Verteidigung der liberalen Idee“: Ist die offene Gesellschaft, um die wir bangen, eine Gesellschaft offener Märkte? Hier diskutierte ich in den Einträgen ökonomische Theorien und Praktiken, von der Klage eines peruanischen Bauern gegen RWE, der sich vom Klimawandel bedroht sieht, bis zum Methodenstreit in der Wirtschaftswissenschaft.
Diese Themenstränge führten letztlich immer wieder zu der Frage: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen zulässt?<< (Von der Zeit aufgelesen, Deniz Utlu)
Einträge ins Logbuch (Tagesspiegel, 2017 bis 2019)
Meine Türkeireise nach Italien, Gramcsi-Straße
Für wen der Tag 25 Stunden hat
Wer auf der Buchmesse in Istanbul fehlte
Das Herz des Konflikts – Eintrag ins Logbuch aus Lima I
Vom Klima in Lima – Eintrag ins Logbuch aus Lima II
Von Küssen und Protesten– Eintrag ins Logbuch aus Lima III
Die Götter der Anderen– Eintrag ins Logbuch aus Lima IV
Deutschkurs fürs Heimatministerium
Von offenen Märkten und offenen Gesellschaften
Welches Tabu Richard Grenell gebrochen hat
Sprich Türkisch, wenn sie dich treffen
Was mir nicht von der Zunge ging
Hör nicht auf zu singen, bitte
Die Verspießbürgerlichung der Demokratie
Die pensionierte Umweltökonomin
Die Unsicherheitsbehörden (Spiegel Online)
Der Mann, der aus dem Fenster fiel
Erster Eintrag ins Logbuch: Gesichter in Europa
Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Zwischen Verlegenheitslächeln und Horror. Etwas wird Wirklichkeit, das immer nur Schreckensbild bleiben sollte. Die Mimik kann noch nicht annehmen, was passiert, aber die Spuren der Politik in den Gesichtern sind bereits erkennbar. Man könnte diesen Ausdruck mit Frust verwechseln, doch das wäre eine Unterstellung. Ich habe ihn in einigen polnischen Gesichtern gesehen, als sie von ihrer Regierung sprachen, vor allem wenn sie den Namen Kaczynski in den Mund nahmen. Ich habe ihn gesehen bei Menschen aus der Türkei, lange vor dem Referendum, lange vor der Wahlwiederholung im November 2015. Diesen Gesichtsausdruck habe ich zwischen den Zeilen einer Freundin aus Marseille gelesen, einen Tag vor der Wahl in Frankreich. Sie ist Theaterautorin, ihre Texte sind pur und poetisch. In ihrer Rundmail entschuldigt sie sich für ihr Pathos und ruft ihre in Frankreich wahlberechtigten Freunde auf – sie selbst ist es nicht – ihre Stimme zu nutzen. Sie schreibt versöhnlich von ihrem neugeborenen Kind, das weder für Geschichte, noch für die politische Gegenwart ein Bewusstsein hat. In ihren Zeilen sehe ich die Gesichter zwischen Scharfsinn, Ungläubigkeit und Horror, denen ich auf einer Reise in Polen begegnet bin, denen ich auf Reisen in die Türkei vor einem Jahr, vor zwei Jahren begegnet bin. Dieser Gesichtsausdruck, denke ich, ist das Antlitz Europas geworden. Le Pen hat am 7 Mai verloren (hat sie das? Die Front National ist stark wie nie zuvor, die Abstimmung über das Parlament steht noch aus). Aber heißt das, dass wir jetzt unsere Gesichtszüge entspannen können?
Im Berlin-Warschau-Express erzählt mir eine Reisegefährtin, eine polnische Übersetzerin, die in Berlin lebt, von der politischen Situation in Polen. Von der Radikalität der Regierung gegenüber Flüchtlingen – niemand, kein einziger sollte aufgenommen werden. Von den aufstachelnden Predigern in Kirchen. Von öffentlichen Medien als pure Propaganda-Instrumente. Von einem Germanistikprofessor, der in der Bahn zusammengeschlagen wird, weil er dort deutsch und nicht polnisch gesprochen hat. Bei einer Führung durchs jüdische Museum, Polin, erzählt die Reiseleiterin, die mich und andere Autorinnen begleitet, nicht ohne Stolz, dass viele Juden jetzt wieder zurückkehren würden nach Polen. Immerhin hatte hier vor der Shoa die größte jüdische Community Europas gelebt. Ich frage Sie auf wann sie sich bezieht, wenn sie von Rückkehr spricht: auf heute oder die Zeit vor der jetzigen Regierung. Und dann ist da wieder das europäische Gesicht und keine Antwort ist nötig. Sie gibt sie trotzdem: „Davor“, sagt sie, aber sie hoffe – sie sagt „wir hoffen“ –, dass man das nicht mehr aufhalten kann. Ich kenne diese Tonlage, diesen Duktus. Überall in Europa habe ich ihn schon gehört. Kaczynski regiert nicht nur in Polen. (Absurderweise regiert er formell ja tatsächlich nicht, Beata Szydlo ist Premierministerin, aber aber aber). Die Kaczynskis, Orbans, Erdogans, Le Pens, etc., ob sie an der Regierung sind oder nicht, lassen überall in Europa den Leviathan wachsen – der monströse Herrscher, der aus seinen Untertanen besteht und seine Existenz mit dem Krieg aller gegen alle rechtfertigt.
Die Grenze des europäischen Populismus verläuft nicht zwischen den Ländern, noch nicht einmal zwischen den Individuen. Er ist flüssig, sickert überall ein, manche Wände sind resistenter als andere, aber da ist eine allgemeine Anpassung, eine Normalisierung des Populismus: In medialen Debatten, im politischen Wahlkampf, im zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Und während das Problem einzelne Länder, Gruppen oder Personen sein sollen und wir Platzhalterdebatten über nationale (!) Loyalität führen, zerrinnt uns Europa zwischen den Fingern.
In Warschau bin ich einer Anekdote des Schriftstellers Witold Gombrowicz begegnet, in dem er beschreibt, wie er zu einem Stammgast einer Warschauer Kneipe verkommen sei. Die Kneipen seien dunkel und voller Rauch gewesen im Warschau seiner Zeit, sodass man beim Eintreten zunächst nichts gesehen habe. Nur dann und wann leuchteten schmutzige Fratzen, buschige Schnurrbärte und die Umrisse hinterhältiger Vorstadttrickser auf. Und doch: dies war ein Poeten Café. „Denn“, schreibt Gombrowicz, „Poeten, ähnlich wie Ungeziefer, kommen an den seltsamsten Orten auf die Welt.“ In diesem rauchigen Café Europa schimmert immer noch Poesie auf. Das nimmt nicht den Schrecken aus unseren Gesichtern, gibt ihnen aber vielleicht eine Richtung, in die sie sich wenden können.