Wir kennen den Ursprung der Dinge, die uns umgeben, oft nicht. Das Licht in unseren Zimmern ist selbstverständlich. Und selbst, wenn wir wissen, dass wir mehr als 7 Millionen Tonnen Kohle aus Kolumbien für unsere Kraftwerke importieren, können wir mit dieser Information nicht immer etwas anfangen.

Bogotá scheint auf den ersten Blick genauso weit weg vom Kohlebergbau zu sein wie Deutschland. Ich komme an einem Feiertag an, alle Läden haben geschlossen. Wer hier an einem Feiertag durch die Innenstadt läuft, hat keine Familie. Deshalb begegne ich dort nur Sicherheitskräften und zahnlosen, bärtigen Gestalten. Die Stimmung ist ein Relikt aus den 90er Jahren, wo die Innenstadt, La Candelaria, wird mir erzählt, so gefährlich gewesen sei, dass hier nur herkam, wer sein Schicksal herausfordern wollte. Heute laufen, wenn nicht gerade Feiertag ist, tausende Menschen durch La Candelaria, die Septima ist für Autos gesperrt und eine Fußgängerzone mit Straßenkünstlern und Skateboardern. In einem Park tanzen ganze Familien in Leggings Bewegungen nach, die ihnen auf einer Bühne vorgemacht werden. Plötzlich ist die Stadt friedlich, scheinen die Familien glücklich, achten die Menschen auf Bewegung. Man kommt nicht darauf, dass bald in Havanna die Regierung mit der FARC, der ältesten Guerilla Lateinamerikas, einen Friedensvertrag unterzeichnen möchte – nach einem Konflikt, bei dem fast sieben Millionen Menschen als Binnenvertriebene leben, nur in Syrien gibt es mehr. Man kommt nicht darauf, dass in weiten Teilen des Landes die Menschen weit unterhalb der Armutsgrenze leben, dass immense Gruben in Berge geschlagen werden – die Kohlemine El Cerrejón hat ungefähr die zweifache Fläche von Frankfurt. Dass Flüsse beim Goldabbau mit Quecksilber vergiftet werden und bei Menschen der Region Nervenschäden verursachen. Auch in Bogotá herrscht das Nichts der Städte, das über die Vorstädte, die Hinterstraßen, das Hinterland, über die Gewalt schweigt. Und doch: es schneiden sich Risse in dieses Nichts und eine Ahnung der Konflikte des Landes und der Welt dringen in die Städte ein. Ich sehe einen Mann, der sich die Hände an einer Kirchenmauer blutig schlägt, die Menschen gehen, irritiert zwar, an ihm vorbei. Vermehrt arbeiten Künstler zum Thema des Einflusses des Bergbaus auf Mensch und Land. So gab es in diesem Jahr etwa eine Ausstellung in einer Galerie in Bogotá mit dem Titel „Des-minado“ (Entminung): Der Galerist Gilberto Hernández und der El Espectator-Karikaturist Chocólo problematisieren mögliche Auswirkungen der Friedensverhandlungen auf den Bergbau. Die Demobilisierung der FARC, die sich teilweise vom (informellen) Bergbau, vor allem Gold, finanziert, könnte weitere multinationale Unternehmen anziehen. Teile der Bevölkerung wehren sich dagegen: Eine Fotoinstallation der Ausstellung zeigt, wie eine Frau der Wayúu, in rotem Gewand, den Güterzug aufhält, der täglich viele Tonnen Kohle durch La Guajira fährt, das Land der Indígenas. Die Frau ist stärker als der Zug, sie greift nach der Lock, die Geschwindigkeit staut sich in ihren Händen und der Zug hebt ein Stück ab. Ein Künstler hat Kohlebriketts in Diamantenform geschliffen und in edlen, wie es heißt japanischen, Schmuckkästen mit Futter aus Satin ausgestellt. Ergibt sich eine Verbindung zu Blutdiamanten? Wieviel wäre ein Kohlebrikett wert, wenn alle Kosten mit einberechnet würden, auch die menschlichen? Der Kohleindustrie werden von Betroffenen und Nichtregierungsorganisationen hohe Kosten zugerechnet: Tote Gewerkschafter, auseinandergerissene Gemeinden, perspektivlose Bauern, denen ihr Land genommen wurde und die nicht wissen, was sie mit ihrer Kompensation in der Stadt anfangen sollen, Anwohner, deren Lungen wegen des Kohlestaubs in der Nähe der Minen erkranken, Langzeitschäden bei den Arbeitern, das vergiftete und verringerte Wasser, die ausradierte Landschaft. All das heruntergebrochen auf ein Kohlebrikett – trifft der Künstler da nicht einen Punkt? Müsste man die Kohle nicht schleifen und in satingefütterten edlen Truhen aus Japan aufbewahren, statt sie zu verbrennen? Auf wessen Kosten leben wir?

Der vollständige Text in: Was für ein Staat? Wo ist der? Eine Reise ins Haupt der Finsternis. In Kolumbien beuten Minenunternehmen Land und Leute aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung, August 2016