Ein Mann war ins Wasser gesprungen um seine Tochter zu finden und nicht wiedergekommen. Sie, die Tochter, war einige Wochen zuvor mit einem Boot gekentert. Wir stehen am Strand. Der untersetzte Herr neben mir, vermutlich ein Mitarbeiter der paramilitärischen Grenzschutzagentur, fragt mich nach dem Miteinander und ich weiß wieder nicht, was das bedeuten soll: Wessen miteinander? Ich arbeite für eine große Nichtregierungsorganisation und zähle die Leichen. Wir trauen den offiziellen Zahlen nicht.  Der untersetzte Herr im Anzug weist auf die Wasserleiche und grummelt mit den Händen auf dem Bauch wie nach einer Beköstigung: „Er hat seine Tochter gefunden.“  Ich stelle mir einen Mann vor, der ins Wasser springt und solange taucht, bis ihm Kiemen wachsen. Und dann taucht er weiter und er findet seine Tochter. Sie hat auch Kiemen bekommen. Die beiden müssen unter Wasser bleiben. Sie versuchen mit den Fischen zu sprechen. Aber Fische kennen nur das Schweigen. Deshalb schweigen auch sie. Sie sehen sich an und sagen nichts. Nur die Augen sprechen. Mit der Zeit lernen sie das Schweigen der Fische, das ein anderes Schweigen ist als das der Menschen, und auch die Augen verstummen. Sie erkennen sich nicht mehr und verlieren einander in den Weiten des Meeres. Ihre Häute werden blasser in der Dunkelheit des Meergrunds. Bald weicht jede Erinnerung aneinander einem Muschelrauschenklang. Vater und Tochter schwimmen viele Kilometer entfernt von einander ziellos umher und öffnen den Mund für kleine Fische und Einzeller und lassen dann und wann einmal eine Blase aufsteigen. Manchmal geraten sie Stirn an Stirn, aber ohne einander zu erkennen. Der Vater spürt eine Leere im Herzen, die Tochter spürt gar nichts. Der Vater schließt den Mund, bis er leblos an Land gespült wird, wo ein untersetzter Herr steht und sich auf den dicken Bauch fasst und mir zugrummelt, dass der an Land gespülte Mann seine Tochter gefunden habe. Die Tochter schwimmt mit anderen Fischen in andere Gewässer. Der Herr:

„Was denken sie über das Miteinander?“

„Sie haben das Boot der Tochter untergehen lassen“, sage ich, „Menschen sind ertrunken. Sie ertrinken immer noch. Was für ein miteinander?“

Er schaut mich lange an, lacht aus dem Kehlkopf und fasst mir an den Hals.

„Kiemen“, knurrt er.

„Ja“, antwortete ich, „war lange unter Wasser.“

Der Herr drückt mir die Gurgel zu. Ich grinse ihn an und sehe aufs Meer. Er folgt meinem Blick. Soweit das Auge reicht, steigen Menschen aus dem Wasser und betreten das Ufer.

 

 

Veröffentlicht auf der Seite von Faust Kultur