In dem Jahr, in dem ich Abitur machte, brachten US-Streitkräfte den Bremer Murat Kurnaznach Guantanamo, weil sie ihn fälschlich für einen Terroristen hielten. Er ist nur ein Jahr älter als ich. Auch er das Kind von Eltern, die aus der Türkei eingewandert waren. Später hieß es, dass die USA ihn schließlich als unschuldig eingestuft hätten und nach Deutschland schicken wollten, aber die Bundesrepublik hätte die Einreise verweigert. Ich empfand das damals als eine Ansage an mich, an alle, die Eltern aus der Türkei oder aus muslimisch geprägten Ländern hatten: Wenn du zur falschen Zeit am falschen Ort sein solltest, bist du auf dich alleine gestellt.

Zwei Jahre lang, von 2005 bis 2007, beschäftigte das mich und die Redaktion des freitextMagazins, das ich herausgab. Es handelte sich um ein politisches Literaturmagazin, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Wirklichkeit zu repräsentieren, in der wir lebten, aber die wir in Kunst und Medien nicht wiederfanden: ein Deutschland der Vielen, das auf das Empowerment der Marginalisierten ausgerichtet ist. Wir fühlten uns alleine mit dem Thema, denn in den Massenmedien hieß Murat Kurnaz damals noch „Bremer Taliban“. Kein Publizist machte sich für ihn stark. Im Gegenteil lieferten die Medien die diskursive Rechtfertigung für das Verbrechen, das ihm angetan wurde. Und auch das hat etwas mit Vertrauen zu tun.

Ich interviewte Kurnaz‘ Anwalt Bernhard Docke für unser Magazin am Telefon. Er nahm sich so viel Zeit für uns, dass ich das Gefühl hatte, mich entschuldigen und rechtfertigen zu müssen, dass wir nur ein Nischenmagazin waren und dass unsere Reichweite verglichen mit den Mainstreammedien vollkommen unbedeutend bleiben musste. Aber Docke winkte das ab, sagte, dass jede, wirklich jede Aufmerksamkeit jetzt hilfreich sei. Die rot-grüne Koalition hatte alles Erdenkliche getan, um Murat Kurnaz‘ Rückkehr nach Deutschland zu verhindern. Die USA hatten ihn bereits 2002 nach Deutschland zurückschicken wollen. Das Kanzleramt arbeitete aber einen „Fünf-Punkte-Plan“ aus, wie Murat Kurnaz auf Distanz gehalten werden könnte. Erst Angela Merkel war es, die sich nach ihrer Amtsübernahme 2005 um ihn kümmerte und dafür sorgte, dass er 2006 wieder in Deutschland war. Im März 2007 schrieb Navid Kermani in der taz: „Und doch ist es eben dieser bärtige junge Mann mit den zotteligen Haaren, an dessen Geschichte abzulesen sein wird, was unsere Werteordnung uns wirklich gilt. Wir sind Murat Kurnaz.“ Ich und andere Mitstreiter_innen aus dem freitext-Team waren ein Stück – wenn auch geringfügig – erleichtert: eine Person, ein Publizist, sagte ja doch etwas.

Eine Sache ist es, wenn das Land, in dem du aufgewachsen bist, sich nicht um dich schert. Eine andere ist es, wenn das Land samt Regierung (Kanzleramt, Innenministerium, Auswärtiges Amt und auf Landesebene die Bremer Landesregierung), Sicherheitsbehörden (Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst) sowie die Presse sich gegen einen stellen, ja bekämpfen. Dass Murat Kurnaz türkischer Staatsbürger ist oder zumindest in seiner Zeit in Guantanamo war, ändert nichts an dem großen Vertrauensbruch. Vertrauen heißt ja nicht nur, dass ich mich darauf verlasse, dass die Behörden ihre Pflicht erfüllen, sondern Vertrauen heißt, dass ich, ohne dass ich das überprüfen könnte, davon ausgehe, dass sie keine Möglichkeit ungenutzt lassen, sich für mich einzusetzen, wenn es darauf ankommt. Die Behörden haben Möglichkeiten genutzt, aber nicht für, sondern gegen Murat Kurnaz. Heute lebt er wieder in Bremen. Im Fernsehinterview bei Beckmann am 16. Oktober 2006 sagte er auf die Frage hin, ob Deutschland immer noch seine Heimat sei: „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich bin hier zur Schule gegangen, ich unterscheide mich nicht von irgendwem anders, der hier aufgewachsen ist. Ich bin aus Deutschland.“ Eine biografische Tatsache, die unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft seine Zugehörigkeit markiert.

Unter den Maßnahmen der Bundesregierung, Murat Kurnaz aus Deutschland fernzuhalten, empfand ich damals eine als besonders perfide: Seine Aufenthaltsgenehmigung sei abgelaufen, weil er sich länger als sechs Monate im Ausland aufgehalten hätte. Struktureller Rassismus: Gesetze so auslegen, dass sie maximal nachteilig auf bestimmte Menschen wirken, obwohl diese Auslegung jedem ethischen Gefühl widerspricht – es war bekannt, was in Guantanamo geschah – und eine andere Auslegung möglich ist. Übrigens geht es hierbei überhaupt nicht darum, ob der Beamte mit dieser ausgeklügelten Idee selbst rassistisch ist oder nicht: Jemand hat seine Analyse gewünscht, jemand hat seinen Vorschlag, der vielleicht einer unter mehreren war, angenommen, jemand hat ihn umgesetzt. Der Beamte, von dem der Vorschlag kam, ist indes niemand Geringeres als Hans-Georg Maaßen, der damals Referatsleiter im Innenministerium war und der im Spätsommer 2018 eine Regierungskrise auslöste, weil er öffentlich bestritt, dass in Chemnitz, wo tagelang Rechtsradikale demonstriert hatten, „Hetzjagden“ auf migrantisch wahrgenommene Menschen stattgefunden hätten, nachdem die Kanzlerin gesagt hatte, ein Land, in dem so etwas stattfindet, sei nicht ihr Land. Die Bundesregierung hatte Maaßen 2012 an die Spitze des Verfassungsschutzes gesetzt. Da war, nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011, das Vertrauen der (post-)migrantischen Bevölkerung gegenüber deutschen Sicherheitsbehörden kaum noch vorhanden. Und jetzt sollte jemand dieses Vertrauen wiederherstellen, der selbst in Verbindung mit strukturellem Rassismus im Fall Kurnaz stand? Wessen Vertrauen eigentlich?Die drei Eklats aus dem Spätsommer und Herbst 2018 – erstens: Maaßen habe der AfD womöglich Informationen zukommen lassen, und zweitens: seine Äußerungen zu Hetzjagden in Chemnitz und drittens: seine Abschiedsrede im Bundesamt für Verfassungsschutz, wo er noch einmal seine Meinung unterstrich und betonte, dass die gesamte Flüchtlingspolitik der Bundesregierung falsch gewesen sei – beschädigten abermals das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Maaßen ist hier nur  Symbol eines Vertrauensverlusts, der weit über ihn hinausragt. Vertrauen heißt, dass ich mir sicher sein kann, dass es den falschen Ort und die falsche Zeit für mich nicht gibt. Vertrauen ist größer als Wissen, es ist das beruhigende Gefühl, dass ohne jeden Zweifel die Verantwortlichen in Behörden die Fähigkeit und die Integrität haben, wo sie können, das Beste für die Menschen zu tun. Dass alles schon in Ordnung sein wird. Aber dieses Gefühl ist nicht mehr da.

 

 

 

Vollständiger Essay in: „Eure Heimat ist unser Albtraum“, herausgegeben von Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah, Ullstein fünf, 2019