Fünfzig Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei: Wer an die Zukunft denkt, muss sich erinnern können. Ein Plädoyer für eine deutsche Geschichte

 

Ich möchte von einem Archiv erzählen. Es trägt keinen Namen und hat keinen festen Ort. Es liegt verteilt im Land. In den Städten. In den Wohnungen. In Zimmern. In alten, verstaubten, lange nicht mehr geöffneten Schränken in den Kellern. Unter Häusern und Straßen.

In diesem Archiv lagern Videokassetten, VHS und Betamax, Filmbänder, vergriffene Bücher, teilweise ohne ISBN und den Pflichteintrag in der Nationalbibliothek, über keinen Google-Suchbegriff zu finden, dort lagern Foto-Alben mit Millionen von Bildern aus den siebziger und achtziger Jahren. Briefe: Liebesbriefe, Sehnsuchtsbriefe, beschwichtigende sogar gelogene Worte an die Heimat, an die zurückgelassenen Eltern, Geschwister, Geliebten. Beschwerdeschreiben, Formblätter, Aufenthaltsgenehmigungen, abgelaufene Pässe mit Stempeln, die festlegen, wo gewohnt werden darf und wo nicht.

Ein Archiv, das eine andere Geschichte der Bundesrepublik und auch der Deutschen Demokratischen Republik erzählt als das, was in den Geschichtsbüchern steht.

Im Vorwort zur umfassenden Dokumentation Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, herausgegeben von Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl, heißt es: „Der Blick ins Archiv hilft gegen das Vergessen.“ Was aber, wenn das Archiv selber vergessen wurde?

In den letzten Monaten habe ich oft nach einer Tür gesucht, die in dieses „Archiv der Migration“, so möchte ich es nennen, führt. Was ich fand, rückte für mich vieles in ein neues Licht. Ich stellte fest, wer kein Archiv hat, muss das Rad immer wieder neu erfinden. Und vielleicht entpuppt sich dieses Rad am Ende auch noch als Hamsterrad. So kam es mir wenigstens bei den Recherchen für das Magazin freitext vor. Wir glaubten lange, dass wir das einzige deutschsprachige Magazin waren, das versuchte die Kulturproduktion in Deutschland transkulturell zu begleiten. Es gab und gibt zahlreiche bikulturelle Zeitschriften, aber ein zweites Kulturmagazin mit dem Schwerpunkt deutsche Gegenwartsliteratur, für das die Geschichte, Gegenwart und vor allem Perspektive der Minderheiten, ob eingewandert oder nicht, eine besondere Rolle spielt, hatten wir nicht gefunden.

Erst Jahre später entdeckten wir die Sirene, die 1990 bis 1999 von dem Autor Zafer Şenocak herausgegeben wurde. Eine deutsche Literaturzeitschrift, die der Geschichte der Migration nach Deutschland als Teil der Geschichte der BRD Rechnung trug. Die Sirene veröffentlichte auch zahlreiche Texte fremdsprachiger Autoren in deutscher Übersetzung und konnte so Zugang zu einem Teil deutscher Geschichte finden, die außerhalb der nationalen Grenzen liegt, nämlich in den Herkunftsländern und Transitländern von Menschen, deren Eltern nach dem Anwerbeabkommen oder vorher (!) nach Deutschland eingewandert waren. Die Bedeutung des Übersetzens und der Fokus weg von kulturellen Differenzen hin zu einer neuen Realität, in der die verschiedenen Elemente nicht nebeneinander existieren, sondern zusammen ein Ganzes ergeben – das waren Dinge, die sich die freitext-Redaktion über die Jahre, in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturproduzenten und -wissenschaftlern der Gegenwart selber angeeignet hatte. Mit einem Zugang zum Archiv der Migration hätte freitext vielleicht an einem anderen Punkt angefangen, das Rad nicht neu erfunden, sondern fortgeschrieben, was in den neunziger Jahren schon angefangen hatte. Ohne Archiv keine Tradierung.

Diese Anekdote lässt mich an Gramscis Anmerkungen zur „Geschichte der subalternen Klassen“ denken. Für Gramsci sind subalterne Gruppen per Definition fragmentiert und können sich nicht vereinen. Aus diesem Grund ist auch die Geschichte der subalternen Gruppen episodisch, fragmentiert und schwierig nachzuvollziehen, folglich auch schwierig zu archivieren. Die Sirene und freitext sind keine subalterne Gruppen. Aber Medien, die die gesellschaftliche Bedeutung von Gruppen mit subalternen Strukturen anerkennen. Vielleicht blieb deshalb ihre Arbeit bisher im Sinne Gramcsis fragmentiert und episodisch. Vielleicht ändert sich das bald.

Gedichte der „Gastarbeiter“

Ich suche in dem verlorenen Archiv der Migration nach der emotionalen Geschichte der BRD und stoße auf die Poesie der Migranten aus der ersten Generation. Lyrikbände, voll mit Trennung, Sehnsucht, das Leben in der Fremde, voll mit deutschen Fabriken, feuchten Matratzen und kalten Zimmern. Veröffentlicht im Eigenverlag, verkauft im Sommerurlaub in den Outdoor-Kantinen türkischer Ferienanlagen am Mittelmeer oder an der Ägäis.

Niemand weiß, wie viele Gedichte in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren von Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Türkei in Deutschland gedichtet wurden, aber es waren viele. Bücher, kaum beachtet – weder in der Türkei, noch in Deutschland –, obwohl sie eine Geschichte erzählen, die für die Türkei und insbesondere für die Bundesrepublik von fundamentaler Bedeutung ist: Nur sechs Jahre nach Gründung der BRD zogen die ersten Gastarbeiter in deutsche Wohnheime, und wenn die sechziger Jahre so etwas wie eine Zeit der ökonomischen Auferstehung Deutschlands waren, haben diese Arbeiter einen erheblichen Beitrag dazu geleistet. Ihre Gedichte erzählen die emotionale Geschichte Deutschlands, die in den Schulbüchern fehlt. Jetzt liegen die Gedichtbände irgendwo im Archiv der Migration in den Kellern der Großväter, die vielleicht bald entrümpelt werden. Wir haben heute, wenn überhaupt, nur noch Zugriff auf eine kleine, fast willkürliche Auswahl.

Seit einiger Zeit dringt Material aus dem verlorenen Archiv an die Oberfläche. In allen Ecken des Landes und über die Landesgrenzen hinaus führen Menschen Grabungsarbeiten durch. Dabei spielt das Internet keine geringe Rolle. Auf angekommen.com sind Webseiten zur Geschichte der Migration im Rheinland und Westfalen archiviert. Im Migrations-Audio-Archiv, einem Projekt aus Köln, können Tonaufnahmen von Migranten abgespielt werden, wo sie von sich, von ihrer Migration, ihren Lebensumständen erzählen. Ebenfalls in Köln sitzt der Verein Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (Domid), der diverse Ausstellungen zur Migration konzipiert hat, davon auch einige virtuell, wie die „Route der Migration“.

Migrationsstraße Naunynstraße

In Berlin haben zwei Universitäten, eine Architektin, der Netzwerk Migration in Europa e. V., das Stadtmuseum, das Jüdische Museum und das Kreuzbergmuseum versucht, die Berliner Route der Migration sichtbar zu machen, an deren Knotenpunkten in der Wirklichkeit Container mit Ausstellungen aufgestellt. Auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg steht ein roter Container, in dem die Doku Mauern 2.0 gezeigt wird – eine Replik von Studentinnen der Migrationsforscherin Manuela Bojadzijev auf Can Candans Film Duvarlar, Mauern, Walls. Hier geht es, um die Perspektive der Migranten auf den Mauerfall, waren sie doch unmittelbar von der Wiedervereinigung betroffen: Die Mauer verlief in Berlin durch Viertel, die vornehmlich von Migranten bewohnt wurden. In den Fabriken im Osten entließ man als erstes die ausländischen Arbeiter. Ein Teil deutscher Geschichte, der bei offiziellen Anlässen für gewöhnlicht keine Erwähnung findet.

In einer der ersten Migrationsstraßen Deutschlands, wo jeder Stein, eine Geschichte zu erzählen hat, wurde eine Grabungsstätte errichtet: das Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Das Ballhaus trug zur Archivierung der Migration bei, mitunter durch die Wertschätzung von Autoren aus der ersten Einwanderergeneration wie Aras Ören. Dessen Poem Was will Niyazi in der Naunynstraße? erzählt in Form eines epischen Gedichts von dem Arbeiter Niyazi, der aus Istanbul in die Naunynstraße zieht. Die Dramaturgen des Hauses sprachen zur Konzipierung eines Theaterparcours nach Ören mit Bewohnern der Straße, wälzten Akten im Kreuzbergmuseum, ließen den zerkratzten Metallspind im Archiv des alten Jugendzentrums Naunynritze aufschließen und baten Privatpersonen, den Onkel von nebenan, die Tante von der Bäckerei, einen Blick in ihre Keller werfen zu dürfen.

Durch das Einbeziehen einiger Einwohner Kreuzbergs wurden Zugänge in das verstaubte Archiv der Migration geschaffen, die über die schöne Vergänglichkeit einer Theaterinszenierung hinaus bestehen bleiben. Für die Filmreihe Gegen die Leinwände des gerade zu Ende gehenden Festivals Almanci! 50 Jahre Scheinehe im Ballhaus haben sich die Kuratoren auf die Suche nach alten Filmen gemacht, die im Kontext der türkisch-deutschen Einwanderungsgeschichte gesehen werden können. Der Film Gülhasan (Hasan the Rose) war schon verloren geglaubt, da kramte ihn ein alter Bewohner der Naunynstraße aus seinem Keller, aus dem Archiv der Migration.

Eine andere Grabungsstätte liegt Tausende Kilometer weit weg an der Westküste der Vereinigten Staaten. Dort wurde das bereits erwähnte Konvolut Transit Deutschland im Rahmen des Multicultural Germany Projects an der University of California, Berkeley zusammengetragen – unter anderem von der ehemaligen Sirene-Mitarbeiterin Deniz Göktürk, die heute Germanistikprofessorin am dortigen German Department ist. In elf Kapiteln mit Themen über die in den letzten 55 Jahren, also seit dem Anwerbeabkommen mit Italien, debattiert wurden, haben die Herausgeber jeweils chronologisch eine große Auswahl an Artikeln und Zeitdokumenten zusammengestellt.

Sie dokumentiert in die Transformation der BRD zu einer multiethnischen Gesellschaft im Zuge von transnationaler Migration, Europäisierung und Globalisierung und zeigt, dass die Debatten zum Thema Migration in Deutschland fast so alt sind, wie die Republik selber. Dass die Migrations- und Integrationsdebatte des letzten Jahres mit einem aufatmenden „Jetzt kann endlich darüber gesprochen werden“ begrüßt wurde, liegt unter anderem daran, dass das Archiv Transit Deutschland nicht hinreichend bekannt sind. Oder anders formuliert: Das Archiv der Migration ist nicht Teil des kollektiven Bewusstseins, das sich im Übrigen weder national noch sprachlich eingrenzen lässt.

Migrationsgeschichte ist selten Thema in Schulen oder auch anderen Institutionen. In der Einleitung von Transit Deutschland wird ein Beispiel genannt: „In den drei Bänden Deutsche Erinnerungsorte ist kein einziger Text zu finden, der einen Bezug zur Migrationsgeschichte hätte.“ Dabei ist die Geschichte, die in diesem Archiv steckt, nicht allein die Geschichte der Migranten, sondern auch die der Mehrheitsgesellschaft. Das Archiv der Migration ist Teil des Archivs ein und derselben Gesellschaft. Wird die Perspektive der Migranten ausgeblendet, hinterlässt das Lücken im eigenen Geschichtsverständnis.

Rein ins Archiv

Ein solches Archiv der Migration, das in die nationale Narration integriert und mithilfe dessen, wie Göktürk immer wieder betont, die Nationalgeschichte transnationalisiert wird, hebt womöglich auch ein Stück weit die konstruierte Dichotomie eines kollektiven „Wir“ und eines kollektiven „Sie“ auf, weil deutlich wird, dass alle Beteiligten, Protagonisten derselben Geschichte sind. So gesehen ist die „Angst vor dem Fremden“ in Wirklichkeit die Angst vor der eigenen Geschichte. Deshalb ist die Forderung nach einer Einbeziehung der Migrationsgeschichte und der Perspektive von Migranten in den Schulunterricht und in Arbeiten über das kollektive Erinnern keine Forderung nach mehr Paternalismus, wo die Mehrheitsgesellschaft aus Rücksicht in einer Fußnote zur Geschichte der BRD auch die Migranten erwähnt. Vielmehr impliziert die Forderung eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft – kulturell, historisch, ökonomisch und sozial.

Letztlich müssen nicht nur subalterne Gruppen das Rad immer wieder neu erfinden, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft, wenn sie sich nicht mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt. Dafür muss sie, dafür müssen wir alle unsere Hamsterräder verlassen und das Archiv der Migration betreten.

 

 

Veröffentlich in Der Freitag, 31.10.2011