Kein Roman, kein Gedicht entsteht im Vakuum. Hinter jedem literarischen Satz verbirgt sich ein anderer Satz einer anderen Autorin, hinter der wieder ein anderer Autor steht und so weiter, ins Unendliche. Das hat sich in der Literatur nie geändert, es ist konstitutiv.
Ein willkürlicher Blick in die Gegenwartsliteratur gibt zahlreiche Beispiele: Wenn Shida Bazyar ihren jüngsten Roman „Drei Kameradinnen“ nennt, schwingt „Drei Kameraden“ von Erich Maria Remarque mit. Sasha Marianna Salzmanns Romantitel „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist ein modifizierter Satz von Anton Tschechow aus „Onkel Wanja“. Indem die Autorin hier das Wort „herrlich“ statt „schön“ verwendet, schließt sie die Konnotation von „Herrschaft“ und „Herr sein“ nicht aus. Salzmann spielt mit der Referenz, indem sie erkennbar bleibt, aber variiert wird.
Ein Leser der Lyrik von Kavafis denkt beim Titel von Asal Dardans Essayband „Betrachtungen einer Barbarin“ sofort an das Gedicht „Warten auf die Barbaren“, in welchem in einer Stadt des antiken Griechenlands alles stillsteht. Man wartet auf die Ankunft der „Barbaren“. In dem Gedicht kommen die Fremden nie an. Und die Griechen, die doch so viel auf diese Unbekannten projiziert hatten, sind nun ganz bedrückt, weil die Projektionsfläche ausbleibt. Bei Asal Dardan ermächtigt sich die Projektionsfläche zu sprechen als wäre ihr Buch eine Ausformulierung jenes Satzes aus Kavafis‘ Gedicht: „Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?“
Texte sind ineinander verwoben. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort findet sich das ebenso: Etwa James Baldwins Essay „Notes of a Native Son“, der in nächster Zeit in einer Neuübersetzung von Miriam Mandelkow unter dem Titel „Von einem Sohn dieses Landes“ erscheinen wird, bezieht sich auf den Roman „Native Son“ des Autors Richard Wright. Baldwins Essay erschien 1955 in den USA. Der Prätext des für die afroamerikanischen Schriftsteller seiner Zeit so bedeutsamen Romanciers Richard Wright erschien schon 1940.
Wenn sich neuere Geschichten wie hier deutlich, in anderen Fällen versteckter, immer auf Vorgängergeschichten beziehen, bedeutet das, dass, wer über Kanon nachdenkt, auch über intertextuelle Verweise nachdenken muss. Denn schließlich hängt davon, welche Lektüren als bekannt oder gemeinsam gelten können, ab, welche Bezüge im Text im Zeitverlauf und nach Übersetzungen noch sichtbar bleiben. Wenn Richard Wright etwa für deutschsprachige Lesende kein Name mehr ist, verschwindet für sie dieser Autor aus dem Titel jenes einflussreichen Essays von James Baldwin. Die Leseerfahrung fragmentiert, die Texte entwurzeln.
Dass alle, die lesen, immer jeden Verweis in einem Text erkennen, ist natürlich nicht möglich. Im Verhältnis zur Menge der Texte, die gelesen werden können, wird nur eine kleine Auswahl in Schulen und Universitäten vermittelt und im kulturellen Gedächtnis verankert. Aber wenn es diesen Kanon gibt, also jene Auswahl solcher normsetzenden Texte, wer entscheidet dann über seine Intension? Welche Bezüge bleiben sichtbar, welche verschwinden mit der Zeit?
Vielleicht hat die Autorin Shida Bazyar nicht ganz unrecht, wenn sie sagt, sie halte nichts von einem Kanon. Und ebenso auch nichts von seiner Erweiterung. Das sei dieser „merkwürdige, bürgerliche Drang, sich die richtigen Dinge ins Regal zustellen.“ Das habe für sie nichts mit der „Liebe für Geschichten“ zu tun. Den Kanon zu bestimmen sei vielmehr eine Strategie von Ausschluss und Zugehörigkeit. Das ist wahr. Doch was folgt daraus?
Denn abschaffen lässt sich der Kanon nicht. Er kommt zu uns mit den ersten Geschichten, erreicht uns in Kinderbüchern und, immer weniger zwar, in oraler Tradierung. Der Kanon ist in uns. Er lässt sich nicht individuell ignorieren, weil er kollektiv wirkt. Er bestimmt die Wahrnehmung sowohl von Autoren als auch von Lesenden und hat einen Einfluss darauf, nicht nur, was wir lesen, sondern auch wie wir es lesen.
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Vollständiger Text in der SZ vom 11. Januar 2022