Mardin liegt auf dem Hang eines Berges mit dem Blick über die Tiefebene Mesopotamiens, eine mehrheitlich arabischsprachige Stadt in einer kurdischen Region, nah der syrischen Grenze, innerhalb der türkischen Jurisdiktion. Die Region ist eine der ältesten christlichen Siedlungsgebiete.

Ich besuchte die Stadt, aus der mein Vater kommt, für eine Recherchereise und mietete mich in einem der typischen Häuser aus Sandstein ein, mit großer Terrasse für Außenbetten im Sommer. Hier wollte ich unter freiem Himmel übernachten, wie es üblich war in dieser Stadt und wie ich es aus den alten Erzählungen kannte. Von der Terrasse und den großen Fenstern des Wohnzimmers schaute ich auf die Steppe, in der Ferne wehte unaufhörlich Sand auf.

Gegen Abend fuhr ich mit dem Direktor des städtischen Museums und seinem Fahrer in das assyrische Dorf Bülbül. Der ursprüngliche und im Volksmund übliche Name lautet Bilebine. Wir ließen Mardin rechts von uns zurück und fuhren an einem weiteren, kleineren und daher, wenn man auf Mardin zufährt unsichtbaren Berg vorbei. Auf dessen Gipfel stand noch eine zweite Burg – die alte Burg, wie der Fahrer erklärte. Sie war nicht beleuchtet und ihr Stein war gelb wie der Berg, sodass ich sie kaum erkennen konnte.

Der Fahrer erzählte, dass hier alles einmal bewaldet gewesen sei. Wir fuhren an Weinreben vorbei. Dies seien die berühmten schwarzen Trauben Mardins, hier sei der Ursprung des Weins, wie wir ihn heute kannten. Schließich kamen wir in Bilebine an, wo die Häuser wie in Mardin aus Stein waren. Wir hielten vor den Mauern der Kirche. Der Eingang auf das Anwesen war abgesperrt. Der Fahrer erzählte, wie er in den Neunzigern als Spediteur arbeitete und hierher Getreide lieferte. Zu der Zeit habe nur ein einziger Mensch in diesem Dorf gewohnt, nämlich der Pastor dieser Kirche, ein alter Mann, der letzte Bewohner. Ich folgte dem Fahrer zu einem kleinen Garten, der versteckt hinter einem großen Walnussbaum neben der Kirche lag und wo eine alte Frau auf einem winzigen Acker arbeitete. Eine assyrische Frau, die arabisch mit uns sprach, sie baute Petersilie und Koriander an, auch Tomaten, genug Gemüse, um eine Familie zu ernähren. Die Sonne ging bereits unter und der Fahrer stellte sich im Garten mit dem Blick nach Mekka auf, während die alte Frau im Schneidersitz auf dem Rasen saß, in der Hand einen Korianderstängel. In der Abendsonne machte der Fahrer auf dem nackten Boden die rituellen Verbeugungen. Auch die Frau und ich verabschiedeten in der Abendstille dieses uralten Dorfes auf unsere Weise die Sonne.

Der Essay erschien am 6. Mai 2023 in der Beilage Bilder und Zeiten der FAZ. Hier zum Weiterlesen: Wort und Wein (PDF)